Warum Herzgesundheit für Frauen neu gedacht werden muss - Zwischen Biologie und Lebensrealität
Unser Körper ist kein Gegner.
Er ist ein Zeitzeuge unseres Lebens.
In der zweiten Lebenshälfte beginnt er, deutlicher zu sprechen.
Nicht um uns zu bestrafen,
sondern um gehört zu werden.
Wer jetzt zuhört,
kann sein Leben neu gestalten –
nicht perfekt,
sondern bewusster, beweglicher, lebendiger.
Frauenherzen sind lange gut geschützt.
Mit der ersten Menstruation bekommen wir Frauen eine fantastische Rüstung geschenkt.
Nicht aus Nanolaminat oder Stahl, sondern aus Hormonen.
Hightech. Biologisch brillant. Erstaunlich langlebig.
Während Männer in ihren Zwanzigern bereits erste Kratzer abbekommen,
hält uns unsere unsichtbare Exoschicht bemerkenswert geschmeidig.
Karriere. Tempo. Nachtschichten.
"Schlaf ist überbewertet", sagen wir –
und kommen erstaunlich weit damit.
Später ärgern wir uns über die durchaus gelungenen Wandgemälde
unserer Kinder an der Treppenhaustapete –
Acrylstift, permanent –
und trotzdem hält unsere Biomatrix.
Sie fängt Stresshormone ab,
auch bei maximaler künstlerischer Freiheit.
Mit Mitte vierzig organisieren wir Familienfeiern,
performen zuverlässig im Beruf,
planen Jugendweihen und Konfirmationen
und denken selbstverständlich an das Geschenk für die Schwiegermutter.
Währenddessen bekommen unsere ehemaligen Klassenkameraden
die ersten Herzinfarkte.
Unsere Rüstung hält.
Unsere weiblichen Hormone halten die Gefäße elastisch,
wirken günstig auf den Fettstoffwechsel,
dämpfen Entzündungen
und schützen Herz und Kreislauf –
leise, zuverlässig, unauffällig.
Dann passiert etwas.
Schleichend.
Der Östrogenspiegel sinkt.
Und mit ihm wird die Rüstung dünner.
Erst sind es Kleinigkeiten:
schlaflose Nächte ohne ersichtlichen Grund.
Knie, die sich beim Treppensteigen melden.
Hitzewallungen.
Momente von Leere im Kopf.
Und irgendwann stehen wir da.
Ohne Schutzschild.
Mit dem Abfall der Östrogenspiegel fällt dieser Schutz weg.
Nicht, weil etwas kaputtgeht.
Sondern weil eine Lebensphase endet.
Unser Körper ist kein Gegner.
Er ist ein Zeitzeuge unseres Lebens.
Und jetzt fordert er etwas ein,
was er lange kompensiert hat:
Zeit.
Rhythmus.
Entlastung.
Aufmerksamkeit.
Nicht als Luxus.
Sondern als Voraussetzung.
Ein Herz in der zweiten Lebenshälfte
braucht das Gefühl,
dass das eigene Leben nicht nur aus Pflichten besteht,
sondern aus Möglichkeiten.
Jetzt brauchen wir eine Medizin
für Menschen, die ihr Leben noch leben wollen.
Eine präventive Lebensmedizin –
nicht aus Angst vor Krankheit,
sondern aus Freude am Leben.
Was würde Ihr Herz sagen,
wenn es sprechen dürfte?
Als Kardiologin sehe ich täglich Herzen.
In Ultraschallbildern, in Kurven, in Zahlen.
Doch hinter diesen Bildern erzählen mir Herzen
von Jahren des Durchhaltens.
Von Stress ohne echte Pausen.
Von Mahlzeiten im Stehen.
Von Bewegung und Freude,
die langsam aus dem Alltag verschwunden sind.
Von Leben, die gut gemeint waren –
aber oft zu eng geworden sind.
Unsere Gesellschaft belohnt Stillhalten,
Funktionieren,
Durchhalten.
Der Körper zahlt irgendwann den Preis.
Dieser Preis lässt sich manchmal überraschend einfach messen.
Zum Beispiel mit dem Treppenindex:
Wer drei Treppen mühelos steigt, ist meist gut versorgt –
mit Bewegung, mit Kraft, mit Atem.
Wer stehen bleiben muss, bekommt eine Botschaft.
Keine Schuldzuweisung.
Keine Diagnose.
Eine Einladung hinzuschauen.
Viele Menschen verdrängen die Endlichkeit des Lebens.
Bis der Körper sie ins Bewusstsein ruft.
Wenn die hormonelle Rüstung dünner wird,
stehen Frauen nicht nur biologisch an einem Wendepunkt.
Sie stehen auch gesellschaftlich an einem.
Denn genau in dieser Lebensphase tragen viele Frauen besonders viel:
Verantwortung für Kinder,
für alternde Eltern,
für Beziehungen,
für Arbeitsprozesse, die ohne sie nicht funktionieren.
Oft leben wir für andere –
und schenken uns selbst, unserem Sein, unserem Sinn
zu wenig Aufmerksamkeit.
Wir wurden dazu erzogen, zu funktionieren.
Nicht zu stören.
Nicht zu fordern.
Nicht laut zu sein.
Viele von uns sind Meisterinnen der Anpassung geworden.
Herzgesundheit von Frauen lässt sich in der zweiten Lebenshälfte nicht verstehen,
ohne diese Realität mitzudenken.
Ohne die Lebenslasten, die unsichtbar bleiben,
aber körperlich wirksam sind.
Der Körper fordert jetzt etwas ein,
das lange als nachrangig galt:
Zeit, die nicht verplant ist.
Entscheidungen, die nicht delegiert sind.
Rhythmen, die nicht fremdbestimmt sind.
Ein Leben, das nicht nur organisiert,
sondern bewohnt wird.
Unser Körper ist kein Gegner.
Er ist ein Zeitzeuge unseres Lebens.
Er erinnert uns daran,
dass Herzgesundheit mehr ist als Werte und Befunde.
Vielleicht beginnt Frauenmedizin genau hier:
beim genauen Hinsehen.
Beim Ernstnehmen weiblicher Symptome.
Beim Verständnis dafür,
warum sich Herzkrankheit bei Frauen oft anders anfühlt
– und deshalb zu oft übersehen wird.
Und bei der Frage,
wie wir unseren Körper wieder so stärken,
dass er uns trägt –
durch Bewegung, durch Kraft,
durch ein Leben im eigenen Takt.
